Birmingham & Stratford: Ein Ausflug nach England
Bonn, 05:30 Uhr: Mein Twingo kommt die Straße hinuntergeschossen und bleibt mit quietschenden Reifen vor mir stehen. OK, das ist natürlich übertrieben. Tatsächlich haben die Reifen nicht gequietscht (dafür sind die Bremsen viel zu schlecht – man kann meinen Twingo nicht wirklich abbremsen, es ist eher eine Art unterstütztes Ausrollen), aber mir ist wichtig, dass allen sofort klar ist: Es geht um jede Sekunde! In etwas über einer Stunde muss ich im Flieger nach Birmingham sitzen und widrige Umstände haben dazu geführt, dass mein Twingo und sein Fahrer sich verspätet haben.
Auf nach England, Shakespeare gucken!
Aber der Reihe nach. Was geht eigentlich ab? Ganz einfach: Für mich heißt es mal wieder “Auf nach England!”. England ist nicht nur statistisch gesehen eines meiner Lieblingsreiseziele. Drei Mal hat es mich schon per Schüleraustausch auf die Insel verschlagen, jetzt ist die Uni dran. Über eine megageheime Nerdconnection bin ich nämlich an ein tolles Shakespeare-Seminar geraten, zu dessen Inhalt ein Besuch von Stratford-upon-Avon (dem Geburtsort von Shakespeare) und das dortige Betrachten von Shakespeare-Stücken im Theater der Royal Shakespeare Company (ihr merkt schon, das Ganze wird ziemlich Shakespeare-lastig heute) gehört.
Und während meine England-Aufenthalte bisher immer sehr London-zentriert gewesen sind, soll es dieses Mal Birmingham sein. Das ist nämlich zum einen näher an Stratford (der vorgeschoben-rationale Grund) und zum
anderen der Schauplatz der großartigen Serie Peaky Blinders (der wahre Grund). Aber dazu später mehr. Jetzt muss ich es erst mal rechtzeitig ans Gate schaffen! Was ich dank Martins Missachtung der Maximalgeschwindigkeit, einem Formel-Eins-würdigen Tankstopp in unter drei Minuten (wohlgemerkt inklusive Ab- und Auffahrt von der Autobahn!) und nicht zuletzt meiner strategisch wichtigen Entscheidung, unsere Autofahrt mit einem abwechselnd aufwühlenden (Mission Impossible Theme-Song) und beruhigenden (Over the Rainbow) Soundtrack zu unterlegen wunderbar gelingt. Ironischerweise steht das Flugzeug danach noch eine gute Dreiviertelstunde auf dem Rollfeld herum, weil über Birmingham anscheinend die englische Alternative zu Wetter eine Landung unmöglich macht (Regen, Nebel – was man sich eben so vorstellt). Das nennt man vermutlich englischen Humor.
Das englische Venedig
Aber so habe ich wenigstens Zeit für einen kleinen Exkurs zum Thema Birmingham. Birmingham ist die Heimat des Heavy Metal (unter anderem Black Sabbath und Judas Priest stammen von dort) sowie der legendären HP Sauce und ist mit etwas mehr als einer Million Einwohnern die zweitgrößte Stadt des Vereinigten Königreichs. Während der Industriellen Revolution erlebte die Stadt eine Blütezeit und erhielt den Beinamen City of a Thousand Trades, weil in der Stadt mehr oder weniger alles hergestellt wurde, was man irgendwie herstellen konnte. Im Gegensatz zu London hatte Birmingham allerdings nicht den Vorteil eines großen Flußes zum Transport der Waren, was zu der Einrichtung der sogenannten Narrowboat-Kanäle führte – einem dicht verzweigten Netz sehr dünner Kanäle, auf denen die
zahllosen in der Stadt hergestellten Waren transportiert wurden (und – ich hatte versprochen, noch auf die Peaky Blinders zu sprechen zu kommen – natürlich auch Schmuggelware und Leichen!). Die Narrowboats waren für einen kleinen Moment in der Weltgeschichte wirtschaftlich so erfolgreich, dass Birmingham angeblich von mehr Kanälen durchzogen wird als Venedig – auch wenn man davon nicht besonders viel bemerkt, weil die Stadt eben auch viel größer ist als Venedig (tatsächlich liegt die Kanaldichte pro Quadratkilometer in Birmingham bei 2,573 kqm, in Venedig dagegen bei sagenhaften 7,129 kqm!¹). Mit der Erfindung der Eisenbahn waren dann allerdings auch die 15 Minuten Ruhm der Narrowboats vorbei – und aus der wirtschaftlichen Nutzung wurde eine touristische, so dass in dieser Fotoserie ungefähr tausend Narrowboat(-Kanal)-Fotos auf euch warten. Cheers!
Mit Hitler im Flugzeug
Zurück im Flugzeug, wir sind mittlerweile abgehoben und auf bestem Weg nach Birmingham. Nach einem erfolglosen Versuch, ein wenig Schlaf nachzuholen, beobachte ich meine Mitreisenden. Die meisten scheinen Geschäftsleute zu sein (Birmingham ist eine der wichtigsten Finanzmetropelen des UK), ein paar Touristen wie ich und einige, deren Reisezweck nicht so recht einzuordnen ist. In die letzte Kategorie fällt auch der Engländer Anfang 30 auf dem Platz neben mir, der in vornehm englischer Zurückhaltung noch kein Wort mit mir gewechselt hat und stattdessen in Timur Vermes’ Hitler-Persiflage Er ist wieder da liest (natürlich in der englischen Ausgabe, deren Titel lustigerweise Look who’s back lautet). Ich komme nicht umhin, mich zu fragen, wie dieses Buch wohl auf einen Engländer wirken mag (die Handlung kurz zusammengefasst: Hitler wacht im Berlin der Gegenwart auf und bekommt eine Comedy-Sendung). Ob er darüber lachen kann? Ob er sich darüber wundert, warum gerade dieses Buch wochenlang die Bestseller-Listen angeführt hat? Ob er es vielleicht einfach nur langweilig findet? Ich bin mir nicht sicher, ob man das Buch überhaupt verstehen kann, wenn man nicht in Deutschland aufgewachsen ist und weiß, welch strengen Regeln eine Beschäftigung mit der Hitler-Zeit unterworfen ist, wie wichtig es ist, zu wissen, was man sagen und was man nicht sagen darf. Ob sich die Hitler-Witze in Er ist wieder da wohl jemandem erschließen, der nicht in sämtlichen Schulfächern (inklusive Sport und Musik) über die Judenvernichtung gesprochen hat? Ich kann es mir kaum vorstellen. Aber ganz unabhängig von seiner Reaktion führt mir das Buch vor Augen, wie froh ich sein kann, mich 2015 und nicht etwas mehr als 70 Jahre früher auf den Weg nach England zu machen. Auch wenn der Coolness-Faktor einer Flugreise damals entschieden höher gewesen wäre, hätte ich ungerne auf meinen schweigenden Reisebegleiter schießen müssen. Insbesondere, weil der am Ende noch zurückschießt. Und das ist dann wirklich nicht mehr der entspannte Urlaub, den ich mir vorgestellt hatte.
Aber ich schweife ab.
Statt uns gegenseitig zu beschießen landen Schweigi und ich wohlbehalten in Birmingham, wo ich bei der netten und gutaussehenden Aixa (gesprochen: Eisa) unterkomme. Und nein, das ist kein englischer Name, sondern ein spanischer. Meine Gastgeberin (CouchSurfing, was sonst) stammt eigentlich aus einem Ort in der Nähe von Grenada, hat sich aber dazu entschieden, in England ihre Doktorarbeit zu schreiben. Anscheinend ist es Glücksspiel, in Spanien eine Doktorarbeit zu schreiben, da die Fördermittel für die Stelle als Doktorand und für die Forschung nicht über den gesamten Zeitraum bewilligt werden – so dass manchmal am Ende des Geldes noch ziemlich viel Arbeit übrig ist. Wirtschaftswissenschaftlerin durch und durch hat sich Aixa daher für eine Doktorarbeit in den UK entschieden. Zu meinem Glück, denn so konnte ich bei ihr auf dem Fußboden pennen. Zufälle gibt’s.
White Sea in Shakespeare-Town
Nach ein paar angenehmen Tagen in Birmingham geht es mit dem Zug nach Stratford-upon-Avon. Stratford ist eine 23.000-Einwohner-Stadt, die man vermutlich bestenfalls als verschlafen bezeichnen könnte, wenn nicht gerade rund 2 Millionen Touristen aus aller Welt jedes Jahr den Ort besuchen wurden – so auch den Shakespeare-Kurs der Uni Bonn. In der Stadt dreht sich wenig überraschend alles um Shakespeare: Die wichtigsten Sehenswürdigkeiten sind die Stationen seines Lebens, Gasthäuser sind nach seinen Stücken oder Charakteren benannt; es gibt Othello-Taxis, Iago-Juweliere und zahllose weitere mehr oder weniger gut versteckte Anspielungen auf den berühmtesten Sohn der Stadt. Was ein bisschen unfair ist, denn schließlich ist auch Adrian Newey in Stratford geboren, da hätte man zumindest bei den Taxis ja ruhig mal ein Zeichen setzen und sie in Red Bull-Farben anmalen können (das verstehen jetzt nur Formel 1-Fans, glaube ich). Vor allem aber kommt es mir dann doch ein wenig übertrieben vor. Andererseits: Wer weiß – vielleicht gibt es in 400 Jahren in Erftstadt auch Weltkugelschreiber-Taxis und bei La Pizetta kann man die
Pizza ‘Jonas Speciale’² bestellen. Unwahrscheinlich ist das nicht.
Stratford ist nahliegenderweise das Mekka für Shakespeare-Fans. Wenn die Season beginnt, strömen sie in Scharen in die kleine Stadt, sehen sich jede Inszenierung an, analysieren sie, vergleichen sie mit den Inszenierungen der Vorjahre und teilen sich gegenseitig ihre fachkundige Meinung mit. Vor allem aber tun sie im Laufe der vielen Jahre des Shakespeare-Genusses eins: sie altern. So kommt es, dass man aus den oberen Umgängen des RST (Royal Shakespeare Theatre, wer hätte es gedacht) auf ein Meer aus weißen Haaren blickt (Experten, wie die wunderbare Katharina, die unsere tapfere Gruppe anführt, sprechen von dem “White Sea-Phänomen”). Am Altern ist erst einmal nichts Verwerfliches, es ist kein Ausdruck mangelhaften Charakters und erfordert auch keine besonderen Kenntnisse sondern kommt recht natürlich daher. Allerdings, so warnt uns der Direktor des Shakespeare-Instituts, kann der gemeine Shakespeare-Fan im Alter unangenehme, besserwisserische Eigenschaften entwickeln, die seine Nähe zu einem zweifelhaften Vergnügen machen.
Unser Hausexemplar des Shakespeare-Fans lernen wir am ersten Morgen beim Frühstück in unserem Bed and Breakfast kennen. Wir bemerken den Gentleman erst, als er das Wort an uns richtet. Mit weißen Haaren, heller Stoffhose, einem sandfarbenen Hemd und einer Alte-Männer-Jacke in hellbeige (plus – gewissermaßen als Farbtupfer – einem hellbraunen Schal) setzte er sich erst einmal nicht ausreichend von der weißen Wand im Frühstücksraum ab, um ihn gänzlich ohne akustische Signale wahrzunehmen. Höflich erkundigt er sich nach unserer Herkunft und über den Zweck unseres Besuchs. Dies ist ein sehr kritischer Moment. Es braucht nur eine falsche Antwort und die Chance auf eine Beziehung zum Shakespeare-Fan ist verspielt; er zieht sich zurück und wartet vermutlich auf mehr Glück in der nächsten Season. Das passiert uns nicht. Nicht nur können wir wahrheitsgemäß behaupten, gleich mehrere Stücke besuchen zu wollen, einige Teilnehmer unserer Gruppe sind darüber hinaus gar seit einigen Jahren dabei. Das Herz von Sir Shakespeare öffnet sich und der Raum wird wärmer, als uns seine Liebe entgegenfliegt.
Sir Shakespeare
Zu unserem Glück gehört er zu der gutartigen Sorte, die grundsätzlich jedes Stück loben. In den kommenden Tagen tauschen wir uns morgens beim Frühstück mit Sir Shakespeare zu den Stücken aus und profitieren von seinem Wissen vergangener Seasons. Jeden Morgen ist Sir Shakespeare als erster beim Frühstück und verlässt den Raum kurz bevor das Frühstück offiziell endet: Er setzt seinen khakifarbenen Hut auf und verlässt, den Regenschirm in der Hand, das Haus. Anschließend betritt seine Frau den Raum.
Im Laufe des Tages begegnet man Sir Shakespeare gelegentlich auf einer der zwei bis drei wesentlichen Straßen in Stratford, meist in der Nähe vom RST. Die Begegnungen laufen dabei wie ein einstudierter Tanz nach einem festen Schema ab: Man begrüßt sich herzlich, erkundigt sich je nach Tageszeit entweder nach dem zuletzt gesehenen oder dem als nächstes zu sehen beabsichtigtem Stück, wünscht sich viel Vergnügen und versichert sich der Vorfreude, sich gegenseitig beim Frühstück wiederzusehen. Danach geht man wieder auseinander, denn beiden Parteien ist klar, dass sich diese Beziehung noch in ihrer Testphase befindet, dem fragilen Punkt, an welchem eine falsche Äußerung, zum Beispiel über die Vorliebe für einen bestimmten Director oder Schauspieler bei einem Ale im Dirty Duck (dem Pub direkt an der RST) alles ruinieren kann.
Doch wir bewähren uns – und werden belohnt. Beim Frühstück zu unserer Abreise bereitet Sir Shakespeare den Boden für ein Wiedersehen im nächsten Jahr. Er berichtet uns, was er alles studiert hat, wie viele Doktortitel ihm verliehen wurden (es sind zwei) und erzählt uns, wie er seiner Frau den Antrag gemacht hat (»I said: “Do you suppose we could get married?” and she said: “I suppose we could.” – I didn’t suppose she would, you see?«). Und dann passiert etwas Verblüffendes. Er erzählt uns, dass er Krebs hat und davon, wie man ihm im zweiten Weltkrieg beibrachte, auf Deutsche zu schießen, aber er immer daneben zielte, weil »ich mir nicht vorstellen konnte, dass das wirklich alles sein sollte«. Anschließend verabschiedet er sich von uns, setzt seinen khakifarbenen Hut auf, nimmt den Schirm in die Hand und verlässt das Haus, bevor seine Frau den Raum betritt.
¹ Nein – es gibt nicht wirklich eine Maßeinheit für Kanaldichte pro Quadratkilometer. Ernsthaft, glaubt ihr mir eigentlich alles?
² Erstens: Ja, La Pizetta wird es auch in 400 Jahren noch geben. Zweitens: Eine Pizza ‘Jonas Speciale’ ist recht einfach zuzubereiten. Man nehme: Eine reguläre Tiefkühl-Pizza Margharita (ALDI, wenn möglich) und einen Mozzarella. Die noch gefrorene Tiefkühlpizza als Schneidebrett missbrauchen, den Mozzarella in Scheiben schneiden, die Pizza damit belegen, dann das Ganze für 18 Minuten in den nicht vorgeheizten Ofen bei 225 °C. Ich bestehe darauf, dass dieses Rezept für die Millionen künftiger Erftstadt-Touristen nicht verfeinert werden darf.