Irland: Zurück in die Zukunft
Irland. Heute 4,8 Millionen Einwohner, ein Drittel davon in Dublin und Umgebung. Damals, vor Hungersnot und britischer Ausbeutung: 6,5 Millionen. Von 1845 bis 1849 verhungern rund 1,5 Millionen Iren, dennoch wird weiterhin Nahrung exportiert. Wer nicht verhungert wandert aus: Heute leben mehr Menschen irischer Abstammung außerhalb von Irland als Iren in der "alten Heimat".
Nach dem ersten Weltkrieg reicht es denen, die geblieben sind: Ein blutiger Bürgerkrieg von 1919 bis 1921 befreit Irland zumindest teilweise von der britischen Krone. Knapp 3 Millionen Iren sind nach Krieg, Hunger und Massenauswanderung noch übrig; das Land steht kurz davor, seine Seele zu verlieren. Eine miserabel ausgestattete und unterbesetzte Kommission schafft die Wende: Die Irish Folklore Commission schickt Beamte bis in die entlegensten Gegenden Irlands um die Kultur eines Landes zu retten: Dialekte und Folklore, Mythen, Geschichten und Gedichte werden niedergeschrieben und nach und nach entsteht eine Karte der irischen Mentalität, der Seele eines Landes, die jahrzehntelang unter britischer Herrschaft gelitten und dennoch überlebt hat. Dass die Kommission Erfolg hat zeigt unser heutiges Irlandbild. Es ist geprägt von Geschichten über Leprechauns, Banshees und einen Topf aus Gold am Ende des Regenbogens.
Irland: Exportnation Nummer Eins
Mehr noch als die Folklore ist unser Irlandbild allerdings geprägt von den jüngsten Errungenschaften des Landes, die die Gewalt der Achtziger in Belfast und Derry fast vergessen lassen: Irland ist Heimat für der Rechenzentren von Google und Facebook. Es ist eines der ersten europäischen Länder, das die gleichgeschlechtliche Ehe der Ehe zwischen Mann und Frau komplett gleichgestellt hat. Zu den wichtigsten irischen Exportartikeln gehören billige Flugtickets, die weltweit einzige Musikform mit halbwegs akzeptablem Blockflöten-Einsatz und natürlich Guinness, das berühmteste irische (und neuerdings vegane) Bier, das weltweit in den wahren Botschaften der Republik Irland ausgeschenkt wird: den Irish Pubs, in denen sich die rund 40 Millionen Exil-Iren überall zuhause fühlen dürfen. Irland hat sich gewandelt in den letzten Jahren und nach einer Reise in beide Teile des Landes - das selbstverwaltete Nordirland als Teil des Vereinigten Königreichs und die autonome Republik Irland - erscheint dieser Wandel nicht mehr umkehrbar. Irland ist im 21. Jahrhundert angekommen.
Unterwegs in Irland: Dublin & Galway
Unsere Reise beginnt in Dublin. Ein Tag reicht für die irische Hauptstadt, zumindest, wenn man es eilig hat, aufs Land zu kommen. Wir haben ein kleines Airbnb im Zentrum der Stadt, um die Ecke der St. Patricks Cathedral - nah genug an hervorragenden Cafés für ein irisches Frühstück und nah genug an den Pubs, um morgens ein irisches Frühstück zu brauchen. Die zweite Station heißt Kinvara, ein kleines Touristendorf an der irischen Westküste im County Galway. Da uns das 945-Einwohner-Dorf noch zu hektisch ist, geht es ein Stück weiter, nach Aughinish. Die bessere Hälfte einer Halbinsel wird von rund 40 Menschen bewohnt, der ideale Ort um an Silvester die Korken knallen zu lassen! (Es gibt einen Pub auf der nächsten Insel, allerdings führt der Weg zurück über eine einspurige Straße durchs Meer, wer zu sehr die Korken knallen lässt, knallt daher schnell ins offene Wasser.)
Unterwegs in Irland: Sligo & Derry
Im neuen Jahr geht es weiter nach Norden, Richtung Sligo. Die kleine Küstenstadt Strandhill ist etwa das, was dabei herauskäme, wenn man das kalifornische Santa Barbara mit einer englischen Reihenhaussiedlung kreuzt. Im Winter. Dennoch: In der Strand Bar gibt sich das örtliche Who’s Who die Klinke in die Hand, dank winterlicher Abwesenheit von Touristen bleibt es familiär und vor prasselndem Kaminfeuer wird uns die leckerste Pizza Irlands serviert. Dennoch bleiben wir nur eine Nacht bevor es weiter nach Inch Island in der Nähe von Derry geht. Jeder Zwischenstopp ist dabei nur rund 2 Stunden voneinander entfernt, doch da im Winter die Sonne in Irland schon um 16 Uhr untergeht und wir ständig für Fotos anhalten müssen, erreichen wir auch Inch Island, eine mit rund 450 Einwohnern vollgestopfte Insel in der Nähe von Derry, erst nach Einbruch der Dunkelheit. Bei Hannah und Dominic erleben wir irische Gastfreundschaft, irischen Whiskey und irischen Regen, der droht, die Insel vom Festland abzuschneiden. Glücklicherweise ist Dominic Teil einer Bauernfamilie, die weiß was zu tun ist, wenn der Regen kommt. Während um uns herum Aufgaben verteilt, Traktoren bestiegen und Sandsäcke geschleppt werden, weist man uns den Platz auf dem Sofa und eine Tasse Tee zu. Anscheinend gilt auch in Irland: Jeder nach seinen Möglichkeiten. Wir entscheiden, eine Nacht länger zu bleiben.
Unterwegs in Irland: Belfast
Der letzte Stop ist Belfast. Hauptstadt der Trennung zwischen Katholiken und Protestanten in den 1880er Jahren. Hauptstadt der Gewalt im Nordirland-Konflikt der 1980er Jahre. Eine Free Walking Tour später kennen wir die wichtigsten Sehenswürdigkeiten und Eckpunkte der Geschichte Belfasts. Ein großer Teil der Stadt hat keine, denn im zweiten Weltkrieg nimmt die deutsche Luftwaffe die wichtige Industriestadt auseinander, es stehen kaum zwei Gebäude nebeneinander, die aus derselben Zeit stammen. Was die Luftwaffe übersehen hat, übernimmt dann später die IRA: Ganze 43 Mal wurde gehen allein am Hotel Europa Bomben hoch. Nicht so sehr als irische Variante von EU-Skeptizismus, sondern eher als Frühform von Fake News: Im Hotel Europa nächtigen Journalisten, die über den Nordirland-Konflikt berichteten. Und wie das alte Sprichwort sagt: Wenn der Journalist nicht zur Bombe kommt, muss die Bombe eben zum Journalisten kommen. Zu der Zeit gehört Belfast neben Beirut und Bagdad zu den drei Städten mit “B”, the World’s Hottest Places, in deren Nähe niemand mit nur ein bisschen Verstand kommen möchte. Kurz: Eine Stadt aus schwierigen Verhältnissen.
Doch wie das so, erfindet sich Belfast komplett neu. In 2018 prägen zahllose Pubs, Cafés und Restaurants das Stadtbild, es gibt eine lebendige Street Art Szene und die Gerichte in den Restaurants sind vegan oder zumindest local und ethisch vertretbar hergestellt. Game of Thrones hat die Titanic Studios für sich entdeckt und passenderweise sitzt an unserem ersten Abend Hodor nur ein paar Tische weiter im Restaurant neben uns (er ist tatsächlich ein Riese und hat die größte Portion Fish and Chips bekommen, die ich in meinem Leben gesehen habe). Was in Neuseeland Herr der Ringe ist, ist in Irland eben Game of Thrones.
Irland 2018: Der Blick nach vorn
Es bleibt der Eindruck eines Landes, das zu sich gefunden hat. Zwischen Nordirland und Irland gibt es derzeit keine spürbare Grenze, im Grenzgebiet gehen Menschen ihrer Arbeit auf der einen oder anderen Seite nach und was auf der einen Autobahn 120 km/h sind, sind auf der anderen eben 70 Meilen. Der Teekonsum ist auf beiden Seiten stabil hoch und man ist zu Recht stolz auf das irische Bier und den irischen Whiskey. Legenden und Mythen sind Teil des kulturellen Erbes, aber wie in allen Industrienationen weitestgehend verbannt in Souvenir-Läden für Touristen. Beeindruckend sind die grünen Wiesen im Look einer Kerrygold-Werbung, die Gesprächsbereitschaft der Iren nicht erst nach einem gemeinsamen Guinness und natürlich die zahllosen Schafe wohin das Auge auch blickt.