Mexiko Revisited: Piraten, Wrestler und ein blutiger Drogenkrieg
Von Mérida aus reisen wir nach Campeche, Hauptstadt des gleichnamigen mexikanischen Bundesstaats. Die beiden Städte sind ungefähr drei Autostunden voneinander entfernt und verhalten sich zueinander in etwa wie Köln zu Düsseldorf. Eine der beiden Städte strahlt den Charme des Unaufgeräumten, das liebenswerte Chaos der Überforderung und eine beeindruckende Herzlichkeit aus. Die andere Stadt ist sauber, aufgeräumt, organisiert und schön. Vermutlich hat beides seinen Wert.
Jack Sparrow muss draußen bleiben
Wie das deutsche Äquivalent kommt Campeche leicht eingebildet daher. Unser Hostel nennt sich hochtrabend „Boutique“, hat aber nicht einmal Schließfächer und die Häuser im Stadtzentrum erstrahlen zwar in allen Farben des Regenbogens, die Straßen sind aber die meiste Zeit des Tages menschenleer. Dafür stammen viele Häuser aus der Kolonialzeit und sind nicht nur sehr schön anzusehen, sondern auch enorm gut gepflegt und teilweise zugänglich. An allen Ecken der Stadt finden sich Anspielungen auf die Piratenvergangenheit der Stadt – die sich aber letztlich darin erschöpft, dass Campeche mehrfach Pirates of the Carribbean-Style (passenderweise, schließlich sind wir ja auch in der Karibik) überfallen wurde und man danach eine hohe Mauer gebaut hat, die die realen Jack Sparrows draußen halten konnte, so dass das Leben hinter ihr weiter seinen spießigen Gang gehen konnte. Aber ich will Campeche nicht schlechter machen als es ist: Der zentrale Platz ist wunderschön, die Kathedrale eindrucksvoll und spätestens als ein grölendes Gewitter über die Stadt hinwegfegt, kann man sich schon ein bisschen vorstellen, wie die Piratenschiffe im Hafen liegen und die Einwohner der Stadt um Leib und Leben bangen. Was ja bekanntlich das ist, worum es bei einer Reise geht.
Ein See unter der Erde
An unserem letzten Abend in Campeche wälzen wir Gedanken und Google Maps. Weiter nach Westen, Richtung Ciudad de Carmen? Vielleicht sogar noch weiter, nach Chiapas – und einen Höllenritt auf uns nehmen, um einigermaßen pünktlich für unseren Flug nach Mexico DF in Cancún anzukommen? Oder lieber entspannt dieselbe Route rück wie hin, über Mérida und Valladolid nach Cancún um dort wie geplant mein Interview mit José zu führen und ein paar Tage am Strand zu entspannen? Wir entscheiden uns für Variante B. Zum Glück, denn in Valladolid treffen wir in unserer Lieblings-Eisdiele auf Alberto, den Cenote Hunter, der uns zu einer Privat-Tour in einer seiner Privat-Cenoten einlädt. Was nach einem enorm mittelmäßigen Anmachspruch („Der Abend ist noch jung, lass uns doch in meine Cenote gehen …“) oder nach einem ziemlich dürftigen Entführungsversuch klingt („Hey, fahren wir einfach in den tiefen Dschungel, da gehört mir eine Cenote. Ne, echt …“), stellt sich als ein kleines Reise-Highlight heraus. Nach einer abenteuerlichen Fahrt durch den Dschungel steigen wir in eine Tropfsteinhöhle, wo in tiefer Dunkelheit ein unterirdischer See auf uns wartet, erhellt lediglich von einem einzigen Lichtstrahl durch ein Loch in der Höhlendecke. Alberto verspricht uns, dass noch kaum ein touristisches Auge das Wasser seiner Cenote erblicken durfte – den Asking Price von einer Million Dollar können wir aber trotzdem nicht aufbringen. Uns reicht der Augenblick.
Der schönste Strand von Mexiko
Weiter geht es nach Cancún, wir kommen unter in einem Airbnb etwas außerhalb der Stadt. Ungeplant wird es für die nächsten 10 Tage zu unserem Zuhause: Eine schmerzhafte Mittelohrentzündung sorgt dafür, dass wir den Flug nach Puebla doch noch verpassen, während Rebekka sich auskuriert. Die Ärztin hat zwar dieselbe mexikanische Universität besucht wie ich (die Benemérita Universidad Autónoma de Puebla, kurz: BUAP), was mein Vertrauen in ihre Fähigkeiten nicht steigert – aber nicht nur kümmert sie sich aufopfernd um Rebekka, sondern verschreibt auch ausgesprochen großzügig Schmerzmittel, so dass wir zumindest gelegentlich den Strand von Cancún mit seinem türkisblauen Wasser genießen können. Während die matschigen Pfützen von Las Colorados nicht halten können was sie versprechen, strahlen in Cancún der weiße Sandstrand und das türkisblaue Meer mit dem pinken Abendhimmel um die Wette. Trotz der zahlreichen Touristen erlebt man in dieser Atmosphäre das Gefühl von Dankbarkeit, einen so schönen Planeten bewohnen zu dürfen – und nicht etwa einen Drecksplaneten ohne jede Atmosphäre wie den Merkur. No offense.
Wieder zu Hause in Puebla
Knapp eine Woche später als geplant starten wir nach México DF als Zwischenstopp auf dem Weg nach Puebla – die Stadt meiner Alma Mater, wenn man so will. Bevor es weiter nach Kolumbien geht, besuchen wir hier Freunde von damals. Und so seltsam es klingt: Nach vier Jahren Abstinenz kommt mir die Reise nach Puebla vor wie der Weg nach Hause. Die Straßen sind vertraut und nach kurzem Suchen finde ich auch meine Lieblings-Chalupa-Verkäuferin (Chalupas sind eine Art kleine Tortillas, die in kochendem Fett gesiedet, dabei mit Zwiebeln, Käse und Salsa Verde oder Roja sowie auf Wunsch mit Fleisch bestrichen – oder eher bekleckst – werden. Das beste Essen einer ohnehin herausragenden Küche!) Der Zócalo, während meiner Zeit an der BUAP häufig voller Studenten, die gegen die Verstrickungen von Regierung und Drogenkartellen in das Verschwinden und die Ermordung von über 40 Studenten protestierten, ist während unseres aktuellen Besuchs voller Familien, Ballon-Verkäufer und natürlich Bettler. Niemand hat die Studenten vergessen – aber das Leben geht weiter und zumindest besteht die Hoffnung, dass der neue mexikanische Präsident Andrés Manuel López Obrador (besser bekannt als AMLO) die Situation verbessert.
Eine Hoffnung, die meine Freundin Nathalia schnell kleinredet. AMLO sei ein Opportunist, der nur sagt, was die Wähler hören wollen – und keinen Plan hat um Dinge tatsächlich umzusetzen. Vermutlich hat sie Recht, aber davon lassen wir uns nicht stören, als wir abends zu dritt im „Barrio“ zusammensitzen, Bier trinken, über die BUAP, über Mexikaner und Deutsche lachen. Nach ein paar Bier wird klar, dass wir uns mehr vermisst haben als wir beide das für möglich gehalten haben. Einen Abend lang verschwinden die vier Jahre Abstand, in denen wir unterschiedliche Leben gelebt haben und für ein paar Augenblicke fühlt es sich fast wieder an wie zu Studienzeiten. Dann kommt die Rechnung und der Moment ist vorbei – wie die Zeit von damals wird er schnell wieder zur Erinnerung.
Gut gegen Böse: Mexiko auf 25 Quadratmetern
An einem anderen Abend besuchen Rebekka und ich die Arena Puebla. Nichts konzentriert mexikanische Kultur stärker als der „Lucha Libre“, das Mexican Wrestling. Das Spektakel beginnt schon vor der Arena, Straßenhändler bieten wahlweise fettige Bocadillos (eine Art Sandwich), frittierte Kartoffel-Chips oder Masken, Poster und kleine Action-Figuren der großen Lucha Libre-Legenden an. Für 200 Pesos wird uns der Zutritt in das inoffizielle Nationalheiligtum gestattet. Die Arena vereint passenderweise die mexikanischen Nationalfarben: Mehr oder weniger bequeme grüne Holzstühle auf rotem Fußboden sowie die weißen Plastikbecher in den Händen der begeisterten Besucher aller Altersklassen, in denen Cerveza für 20 Pesos serviert wird.
In der Mitte der Arena steht der Boxring – eine rund 25 m² große Bühne, auf der der ewige Kampf zwischen Gut und Böse, zwischen den Technicos, die sich an die Regeln halten, und den Rudos, die diese Regeln dehnen und, wenn nötig, brechen. Kein Wunder, dass die Mexikaner sich mit Lucha Libre vielleicht noch mehr identifizieren können als mit Fußball.
Wir sitzen auf der rechten Seite der Arena, reiner Zufall verschlägt uns daher in das Lager der Technicos. Wann immer einer „unserer“ Kämpfer einen Gegner durch die Luft wirbelt und zu Boden wirft, jubeln wir mit den Anhängern der „Guten“, wann immer eine Gruppe Rudos sich zusammenschließt, um regelwidrig gemeinsam einen Technico in die Mangel zu nehmen, pfeifen wir und versuchen, die mexikanischen Schimpfwörter zu imitieren, die in Richtung der linken Arenaseite gerufen werden. Der Schiedsrichter glänzt dabei meist durch Abwesenheit, oder wendet dem Kampfgeschehen bewusst den Rücken zu, um zum begeisterten Publikum hin ergeben die Schultern zu heben – was soll man schon machen, gegen diese Rudos?
Staatsversagen, Morde und Ohnmacht
Im finalen Kampf greift er dann doch ein: Ob eines allzu eklatanten Regelverstoßes wird den Technicos der Sieg zugesprochen. Während einer der „Guten“ mit der Bahre von der Bühne getragen wird, frage ich mich, ob Mexiko nicht auch einen Schiedsrichter verdient hätte, der bei allzu krassen Verstößen eingreifen und die Rudos in ihre Schranken verweisen könnte. Seit 2006 sind im Drogenkrieg rund 200.000 Menschen ermordet worden, 30.000 „Verschwundene“ nicht eingerechnet, allein in 2017 waren es 25.339 Morde. Vor der Wahl des neuen Präsidenten AMLO wurden in Mexiko 130 Politiker getötet, auf der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen steht Mexiko auf Platz 147 von 180, noch hinter Ländern wie der Ukraine, Afghanistan, oder Venezuela. Die Morde an den verschwundenen Studenten kann man allenfalls bei größzügiger Auslegung als „aufgeklärt“ bezeichnen, sie sind lediglich die Spitze des Eisbergs mexikanischen Staatsversagens, der Verbrüderung von Politik und Drogenbanden, teilweise gleich in Personalunion, das erleichtert die Abstimmung.
Abseits vom Spektakel in der Arena herrscht in Mexiko ein realer Krieg, zum Teil mit deutschen Waffen geführt und im Moment ist kein Schiedsrichter erkennbar, der eingreifen würde – vielleicht hat er sich aber auch nur abgewandt und hebt ergeben die Schultern vor dem schockierten Publikum: Was soll man nur machen, gegen diese Rudos?