Serbien: Cafés, Kultur und The Cure in Novi Sad
Nur rund anderthalb Autostunden von Belgrad entfernt, findet sich mit Novi Sad das exakte Gegenstück zur serbischen Hauptstadt. Während das Leben in der Millionen-Metropole Belgrad liebenswert chaotisch, überbordend und manchmal auch ein bisschen hektisch daherkommt, ist das touristisch geprägte Novi Sad ein Ort der Ruhe und Entspannung. Zumindest, solange keine 200.000 Musikfans sich auf den Weg in die Stadt machen. Was passenderweise genau der Zeitpunkt ist, zu dem wir in der Stadt sind - nämlich zum EXIT-Festival! Allerdings spricht es für die tief verwurzelte Gemächlichkeit der Einwohner der zweitgrößten serbischen Stadt, dass sie sich auch von den Besuchermassen eines der größten europäischen Musikfestivals nicht aus der Ruhe lassen bringen.
So hat während des Festivals Novi Sad zwei Gesichter: Das eine kommt tagsüber zum Vorschein, während die Festivalbesucher schlafen. Dann geht alles seinen gewohnten, ruhigen Gang und niemand scheint sich dafür zu interessieren, das aus der Burg auf der anderen Seite der Donau gelegentlich der tiefe Bass von einem Soundcheck zur Stadt hinüberweht.
EXIT through the camera lens
Nachts hingegen kommt das andere Gesicht zum Vorschein: Gegen 23 Uhr machen sich die Musikfans vom Zeltplatz oder in hunderten Taxis auf den Weg zur Festung Petrovaradin und bis in die Stunden des nächsten Morgens verwandeln hunderte Bands und tausende Menschen die Burg in einen scheinwerferbeleuchteten und dezibel-gepowerten Marktplatz der Elektronik- und Rockmusik, in dem man stundenlang wie in einer Parallelwelt versinkt.
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Für mich ist das EXIT ob ihr es glaubt oder nicht die erste Festival-Erfahrung in meinem Leben. Und was für eine Erfahrung! Allein schon die Zahlen sind beeindruckend: Mehrere hundert Bands und Künstler aus allen Teilen der Welt spielen auf angeblich 40 Stages vor insgesamt rund zweihunderttausend Zuschauern. Da in Novi Sad sonst ohnehin nur rund 230.000 Einwohner leben, verdoppelt sich die Einwohnerzahl zu Festival-Zeiten gewissermaßen - zumindest wenn man die Stadtbewohner nicht mitzählt, die das auch das Festival besuchen. Zum Glück sind die Besucher allerdings nicht alle gleichzeitig auf der Burg - trotzdem wird es in der Festungsanlage schnell eng, besonders, wenn man die größeren Acts wie The Cure oder Paul Kalkbrenner sehen möchte (hier geht es zu den Fotos vom Exit-Festival).
Dann heißt es: Ellenbogen ausfahren und Kamera hochhalten. Denn mehr noch als die Musik interessiert es mich, Fotos zu machen. Zum Glück konnte ich die Mitarbeiter der Pressestelle davon überzeugen, mir ein Fotografenbändchen auszuhändigen - damit habe ich zumindest in der Theorie Zutritt zu dem Bereich direkt vor der Bühne, dem Photo Pit. In der Praxis gestaltet es sich als schwieriger - die Security ist wenig beeindruckt von meinem Bändchen (und auch auf mich wirkt es plötzlich viel weniger gewichtig, wenn mir ein 2-Meter-Serbe gegenübersteht) und zum Teil sind überhaupt keine Ansprechpartner da. Aber egal, dabei sein ist alles und am Ende habe ich einige Fotos auf der Speicherkarte, die ihr euch hier ansehen könnt. Glücklich und zufrieden fahre ich mit dem letzten Taxi ins Hotel - um am nächsten Tag das Sonnengesicht von Novi Sad kennenzulernen.
Die Entdeckung der Langsamkeit
Das tickt nach den Rhythmus eines besonderen Novi Sader Wahrzeichen: Der “Drunken Clock”. Die prangt gut sichtbar über der Donau auf der Festung und hat nicht nur die Zeiger in verkehrter Länge (Stunden kürzer als Minuten), sondern geht auch noch notorisch falsch. Angeblich gibt es einen Stadtbewohner, dessen einzige Aufgabe es ist, die Uhrzeit täglich zu korrigieren - und wer das weiß, wundert sich nicht mehr, dass es im Restaurant manchmal etwas länger dauert, bis man bedient wird. Wie stressig muss einem der Job als Kellner vorkommen, wenn man weiß dass ein anderer Mensch den ganzen Tag nichts anderes macht als eine Uhr aufzuziehen!
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Allerdings muss man sagen, dass die Ruhe und Gemächlichkeit, mit der die Novi Sadanesen (ich nenne sie mal so) ihr Leben gestalten ansteckend ist - niemand hat hier das Gefühl, Sight-Seeing-Checklisten abhaken zu müssen. Und das, obwohl es eigentlich eine ganze Menge zu sehen gibt. Zum Beispiel die Festung selbst, die, wenn sie nicht gerade von hunderttausenden Musikfans bevölkert wird, Heimat von zahlreichen Künstlern ist, die sich im Haupthaus ihre Ateliers und Workshops eingerichtet haben. Unterhalb der meterdicken Festungsmauern verbirgt sich außerdem ein kilometerweites Netz an Tunneln, mit dem während Belagerungen feindliche Mineure entdeckt und aufgehalten werden sollten - und das heute von Touristen besucht werden darf.
Freiheit für 80.000 Forint
Wie eigentlich alles in Serbien hat Novi Sad eine bewegte Geschichte hinter sich. Ursprünglich von vorrangig militärischer Bedeutung hat sich die Stadt nur sehr langsam entwickelt - wie das eben so ist, wenn man sich in einer Gegend befindet, die ständig von der Donau überflutet wird - man wird krank, stirbt und hat keine Lust, dazwischen noch ein Haus zu bauen. Innerhalb vieler Jahrzehnte konnten die Bewohner das Land urbar machen und die Stadt aufbauen - ein zeitaufwändiger Prozess, der vielleicht erklärt, warum man es auch heute noch in Novi Sad nicht so besonders eilig hat. In 1748 hatten die Einwohner keine Lust mehr, nur das Anhängsel einer militärischen Befestigungsanlage zu sein und kauften sich von Kaiserin Maria Theresia den Titel einer “königlichen Freistadt” - für 80.000 Forint. Eine lohnende Investition, denn danach durfte die Stadt freien Handel treiben und wurde 1817 als “größte serbische Stadt der Welt” bezeichnet - mit rund 20.000 Einwohnern. Rund 30 Jahre später versuchte man, sich von den österreichisch-ungarischen Machthabern loszusagen - keine so gute Idee, denn in der Festung befand sich noch eine ungarische Garnison, die die Stadt kurzerhand dem Erdboden gleich machte. Auch während der NATO-Einsätze der späten 90er-Jahre wurde die Stadt bombardiert, allerdings weichen die Angaben, wie viel Zerstörung dabei angerichtet wurde, voneinander ab.
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Schlendert man durch die Altstadt von Novi Sad erinnert daran allerdings nichts mehr. Ganz im Gegenteil, die breiten Fußgängerzonen mit zahlreichen aufwändig verzierten Gebäuden aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert verbindet nicht nur die wichtigsten Sehenswürdigkeiten der Stadt miteinander, sondern lädt auch dazu ein, allenthalb stehenzubleiben und sich umzusehen. Wer will, kann eigentlich alle sich alle zehn Meter in ein Café zu setzen, ein Bier trinken oder durch einen der unzähligen Läden zu streifen, die Reisende wie magisch in ihr Inneres locken. Manche dieser Geschäfte können auf lange Tradition und Historie zurückblicken, wie der älteste Lederwarenhändler der Stadt, in dessen Schaufenster eine Kaskade von Gürteln unterschiedlichen Größen und Längen hängt - andere sind wiederum so neu, dass selbst unsere Führerin vom lokalen Tourismusbüro sie noch nicht kennt, wie zum Beispiel “The Mother”, einem kleinen Lädchen voller regionaler Produkte und nachhaltig produzierter Lebensmittel, die sich hervorragend als Mitbringsel eignen.
Eine Stadt hinter der Stadt
Geht man mit offenen Augen durch die Altstadt fallen einem automatisch zahllose Tore und Gassen auf, die in sonnendurchflutete Hinterhöfe führen. Tritt man durch eines dieser Tore eröffnet sich eine kleine Parallelwelt hinter den Wegen der Stadt: Als wäre eine Reihe Häuser nicht genug, warten hier noch weitere Lädchen, Restaurants und Kneipen, verschachtelt und versteckt - und irgendwie doch immer mit den “offiziellen” Wegen verbunden. Dieses versteckte Netz aus kleinen Passagen gilt mittlerweile fast als Markenzeichen der Stadt - und ist sicher einer der Gründe, warum der Lonely Planet Novi Sad 2019 als eine der Top Ten Destinationen für einen Städtetrip in Europa ausgezeichnet hat.
Übrigens nicht der einzige Titel, den Novi Sad für sich beanspruchen kann. Als erste Stadt außerhalb der EU (Serbien ist noch Beitrittskandidat) wird Novi Sad in zwei Jahren als Europäische Kulturhauptstadt ausgezeichnet. Hier und da sieht man deshalb Baustellen und alle Bewohner scheinen darauf erpicht, die Stadt dafür noch einmal besonders schön herauszuputzen. Wer weiß - vielleicht geht dann sogar die Uhr ausnahmsweise mal richtig. Ansonsten wird sie eben noch einmal korrigiert. Das muss dann auch reichen für einen Tag - nachts will man ja schließlich fit sein für das Festival.